Oberstes Gericht in Israel ordnet Einberufung Ultraorthodoxer zum Wehrdienst an

Protest Ultraorthodoxer gegen Einberufung zum Wehrdienst Bild: AFP

Oberstes Gericht in Israel ordnet Einberufung Ultraorthodoxer zum Wehrdienst an

In einem historischen Urteil hat der Oberste Gerichtshof in Israel die Einberufung ultraorthodoxer Juden zum Wehrdienst angeordnet. Die Entscheidung könnte die rechtsreligiöse Koalition von Regierungschef Netanjahu ins Wanken bringen.

In einem historischen Urteil hat der Oberste Gerichtshof in Israel die Einberufung ultraorthodoxer Juden zum Wehrdienst angeordnet. Die Regierung habe "keine Befugnis, anzuordnen, dass das Wehrdienstgesetz nicht auf Jeschiwa-Studenten angewendet wird, wenn es keinen angemessenen gesetzlichen Rahmen gibt", urteilte das Gericht in Jerusalem einstimmig am Dienstag. Die Entscheidung des höchsten Gerichts könnte die rechtsreligiöse Koalition von Regierungschef Benjamin Netanjahu ins Wanken bringen.

Mit dem Urteil reagierte das Gericht auf mehrere Anträge zivilgesellschaftlicher Gruppen, die eine Wehrpflicht für ultraorthodoxe Männer gefordert hatten. Ohne Verankerung der Ausnahmeregelung zur Freistellung Ultraorthodoxer vom Wehrdienst in einem gesetzlichen Rahmen müsse "der Staat handeln, um das Gesetz durchzusetzen", führte das Gericht seine Entscheidung aus. Überdies ordneten die Richter an, dass der Staat die Finanzierung von religiösen Jeschiwa-Schulen einstellen müsse, deren Studenten sich dem Militärdienst entziehen. 

Die Nichtumsetzung des Wehrdienstgesetzes schaffe "eine große Diskriminierung zwischen denen, die zum Wehrdienst verpflichtet sind, und denen, für die keine Maßnahmen ergriffen werden, um sie (in der Armee) zu mobilisieren", begründeten die Richter ihr Urteil. "Zu diesem Zeitpunkt, inmitten eines schwierigen Krieges, ist die ungleiche Belastung ausgeprägter als je zuvor und erfordert die Umsetzung einer dauerhaften Lösung."

Die Entscheidung erfolgte inmitten heftiger Debatten um die bestehende Befreiung Ultraorthodoxer vom Wehrdienst. Nach mehreren Anfechtungen hatte der Oberste Gerichtshof die Ausnahmeregelung zum 1. April aufgehoben. Ministerpräsident Netanjahu bat jedoch um einen Aufschub von 30 Tagen, um eine Einigung innerhalb seiner rechtsgerichteten Regierung zu erzielen, die auf die Unterstützung ultraorthodoxer Parteien angewiesen ist. 

Zuletzt brachte das israelische Parlament am 11. Juni einen Gesetzentwurf zur schrittweisen Einberufung von Ultraorthodoxen wieder auf den Weg. Doch Netanjahus Likud ist in dieser Frage gespalten: Aus der Sicht von Kritikern wie Verteidigungsminister Yoav Gallant ist der von Netanjahu unterstützte Gesetzentwurf weit davon entfernt, den Personalbedarf der israelischen Armee zu decken. Einige Likud-Abgeordnete haben bereits angekündigt, gegen den Entwurf stimmen zu wollen. 

In Israel ist der Militärdienst verpflichtend. Männer müssen 32 Monate in der Armee dienen. Frauen werden für zwei Jahre einberufen. Jedoch können ultraorthodoxe Juden, die sich in einer religiösen Jeschiwa-Schule Vollzeit dem Studium der heiligen Schriften widmen, davon befreit werden. 

Während die Ausnahmeregelung zur Zeit der Staatsgründung Israels nur rund 400 Jeschiwa-Studenten betraf, wurden auf ihrer Grundlage allein im vergangenen Jahr 66.000 ultraorthodoxe Juden im Alter zwischen 18 und 26 vom Militärdienst befreit. Frauen dieser religiösen Strömung sind automatisch vom Militärdienst ausgeschlossen. 

Die seit Israels Staatsgründung im Jahr 1948 geltende Ausnahmeregelung sorgt schon seit Jahren für Unmut in Israel. Insbesondere seit dem Beginn des Krieges gegen die radikalislamische Hamas im Gazastreifen vor mehr als achteinhalb Monaten erhielt die Aussetzung der Regelung neue Dringlichkeit. 

Hunderttausende israelische Reservisten sind seit Kriegsbeginn im Gazastreifen, im besetzten Westjordanland und entlang der Nordgrenze zum Libanon im Einsatz. Seit Kriegsbeginn infolge des beispiellosen Hamas-Angriffs am 7. Oktober auf Israel fordern immer mehr Israelis, dass auch die ultraorthodoxen Männer ihren gleichberechtigten Anteil am Militärdienst leisten. 

Netanjahus Regierung ist die am meisten religiöse und am weitesten rechts stehende seit Israels Staatsgründung. Neben ultranationalistischen Parteibündnissen gehören der Koalition zwei ultraorthodoxe Parteien an, die sich nachdrücklich gegen die Wehrpflicht für Jeschiwa-Studenten aussprechen. Die Frage brachte im Jahr 2018 schon einmal eine von Netanjahu geführte Regierungskoalition zu Fall.

Netanjahus konservative Likud-Partei verwies nach der Urteilsverkündung auf den vorliegenden Gesetzentwurf. Es sei "überraschend, dass der Oberste Gerichtshof, der es 76 Jahre lang vermieden hat, die Einberufung von Jeschiwa-Studenten durch eine Entscheidung zu erzwingen, dies ausgerechnet jetzt tut, am Vorabend der Fertigstellung des historischen Gesetzentwurfs", erklärte der Likud. 

Der ultraorthodoxe Wohnungsbauminister und Chef der Partei Vereinigtes Tora-Judentum, Jitzhak Goldknopf, verurteilte im Onlinedienst X "eine erwartete, aber sehr unglückliche und enttäuschende Entscheidung". 

Die Opposition hingegen begrüßte das historische Urteil. Oppositionsführer Jair Lapid sagte, die Entscheidung des Gerichts bedeute "keine Ausnahmen mehr für Charedim". Der Vorsitzende der Arbeitspartei, Jair Golan, sprach auf X von einer "gerechten Entscheidung". 

Laut der israelischen Statistikbehörde zählen etwa 13 Prozent der jüdischen Bevölkerung Israels zu den Ultraorthodoxen, den sogenannten Cheredim. Das sind fast 1,3 Millionen Menschen bei einer Gesamtbevölkerung von zehn Millionen israelischen Staatsbürgern. Sie halten sich an eine strenge Auslegung der jüdischen Tradition und leben in Israel und anderswo weitgehend in abgeschotteten Gemeinschaften.