Angesichts verzögerter Übergabe toter Geiseln wächst in Israel Druck auf Netanjahu

Angehörige nehmen Abschied von Tamir Nimrodi Bild: AFP

Angesichts verzögerter Übergabe toter Geiseln wächst in Israel Druck auf Netanjahu

Angesichts der verzögerten Übergabe der toten Hamas-Geiseln an Israel sieht sich Ministerpräsident Netanjahu wachsendem innenpolitischen Druck ausgesetzt. Nach der Rückgabe von nur zwei weiteren Leichen durch die Hamas forderten die Geisel-Familien ein Aussetzen des Waffenruhe-Abkommens.

Angesichts der verzögerten Übergabe der toten Hamas-Geiseln an Israel sieht sich Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wachsendem innenpolitischen Druck ausgesetzt. Nach der Rückgabe von nur zwei weiteren Leichen durch die Hamas am Mittwochabend forderten die Geisel-Familien am Donnerstag ein Aussetzen des Waffenruhe-Abkommens. Netanjahu bekräftigte daraufhin die Entschlossenheit Israels, "die Rückkehr aller" noch von der Hamas zurückgehaltenen Geiseln im Gazastreifen "sicherzustellen". Derweil blieb der Grenzübergang Rafah für Hilfslieferungen vorerst weiter geschlossen.

Solange die Hamas weiterhin 19 Geiseln in ihrer Gewalt halte, könne es "keine einseitigen Fortschritte seitens Israels geben", erklärte das israelische Forum der Geisel-Familien. Die Regierung solle die Umsetzung aller weiteren Schritte des Abkommens "unverzüglich einstellen, solange die Hamas weiterhin offen gegen ihre Verpflichtungen hinsichtlich der Rückkehr aller Geiseln und der Leichen der Opfer verstößt". 

Bei einer offiziellen Zeremonie in Jerusalem zum Gedenken an die Opfer des Hamas-Angriffs vor zwei Jahren sagte Netanjahu: "Der Kampf ist noch nicht vorbei. Aber eines ist klar: Wer uns etwas antut, weiß, dass er einen sehr hohen Preis zahlen wird."

Gemäß dem von US-Präsident Donald Trump vorangetriebenen Waffenruhe-Abkommen hätte die islamistische Palästinenserorganisation Hamas am Montag neben den 20 überlebenden Geiseln auch alle 28 toten Geiseln an Israel überstellen müssen. Bisher wurden jedoch nur neun Leichen zurückgegeben. Die israelische Regierung drohte der Hamas deshalb mit der Wiederaufnahme der Kämpfe im Gazastreifen.

Während die Särge mit den sterblichen Überresten zweier weiterer Hamas-Geiseln am späten Mittwochabend vom Roten Kreuz an die israelischen Streitkräfte im Gazastreifen übergeben wurden, erklärte die Hamas, nun alle für sie "erreichbaren" toten Geiseln übergeben zu haben.

Die Hamas habe ihre Verpflichtungen aus dem Abkommen "erfüllt", erklärte der bewaffnete Hamas-Arm Essedin-al-Kassam-Brigaden. Für die Bergung der verbliebenen Leichen benötige die Hamas "spezielle Ausrüstung".

Nach der Identifizierung der am Mittwoch übergebenen Leichen durch die Gerichtsmedizin informierte die Armee "die Familien von Inbar Hayman und Oberfeldwebel Mohammad Alatrash darüber, dass ihre Leichen zur Beisetzung in ihre Heimat überführt worden seien".

Inbar Hayman war die letzte weibliche Geisel, deren Leiche die Hamas noch festhielt. Die Künstlerin wurde auf dem Nova-Musikfestival getötet, ihre Leiche in den Gazastreifen verschleppt.

Auch die Leiche des 39-jährigen Beduinen Alatrash wurde am 7. Oktober 2023 in das Küstengebiet verschleppt. Der Vater von 13 Kindern war zuletzt an seinem Arbeitsplatz im Kibbuz Nahal Oz gesehen worden, seine Familie wurde im Juni 2024 über seinen Tod informiert. 

Nach der Überstellung der beiden Leichen übergab Israel gemäß Trumps Friedensplan im Gegenzug 30 tote Palästinenser an die Hamas-Behörden im Gazastreifen. Damit seien bislang die sterblichen Überreste von insgesamt 120 verstorbenen Palästinensern übergeben worden, teilten das von der Hamas kontrollierte Gesundheitsministerium und das Nasser-Krankenhaus in Chan Junis mit.

Trumps 20-Punkte-Plan sieht nach der Freilassung der letzten lebenden Geiseln unter anderem vor, dass Israel für jede übergebene tote israelische Geisel die sterblichen Überreste von 15 toten Palästinensern aus dem Gazastreifen freigibt. 

Die letzten 20 überlebenden Hamas-Geiseln kamen am Montag frei - darunter die Brüder David und Ariel Cunio aus dem Kibbuz Nir Oz. 

Vor zwei Jahren habe sie die Hälfte ihrer Familie verloren, sagte ihre Mutter Sylvia Cunio am Donnerstag vor Journalisten. Zwei Jahre lang habe sie das Gefühl gehabt, "keine Luft zu bekommen". Doch nun seien ihre Kinder wieder zu Hause. 

Auch der 27-jährige Segev Kalfon kehrte am Montag nach Hause zurück. Sein Vater Kobi Kalfon sagte am Donnerstag, sein Sohn habe in der Gewalt der Islamisten Hunger sowie emotionalen und körperlichen Missbrauch erlitten.

Unter großer öffentlicher Anteilnahme wurde am Donnerstag der im Gazastreifen getötete Deutsch-Israeli Tamir Nimrodi in Kfar Saba beigesetzt. Seine Leiche war am Dienstag an Israel übergeben worden. Der 20-Jährige war am 7. Oktober von den Islamisten im Schlafanzug aus einer Kaserne in den Gazastreifen verschleppt worden. 

Teil des Waffenruhe-Abkommens sind auch Hilfslieferungen für die Bevölkerung im Gazastreifen. Sie waren unmittelbar nach der Einigung angelaufen. Lastwagen mit Hilfsgütern kamen über den israelischen Grenzübergang Kerem Schalom in das Küstengebiet. 

Die für die zivile Verwaltung der Palästinensergebiete zuständige israelische Behörde Cogat teilte am Donnerstag mit, dass vorerst über den Grenzübergang Rafah keine humanitäre Hilfe in den Gazastreifen geliefert werde. Dies sei zu keinem Zeitpunkt vereinbart worden, Hilfe gelange "weiterhin über andere Grenzübergänge in den Gazastreifen".